Wie Viktor Orbán Schwerstkranke gefährdet und den Coronavirus zum Abbau der Demokratie in Ungarn nutzt.

Als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Ende März die Coronavirus-Krise anführte, um ohne konkretes Enddatum per Dekret zu regieren, ging zu Recht ein Aufschrei durch die europäischen Medien. Jetzt hat die Notfallverordnung, die im Kontext der Pandemie zur Notwendigkeit erklärt worden war, erste Folgen. Im Namen des Kampfes gegen Corona verfügte nun ein Dekret, dass 60 Prozent aller Krankenhausbetten zum 15. April für an dem Virus erkrankte Patienten zur Verfügung stehen müssen. Praktisch bedeutet dies, dass unter anderen Krebspatienten und auf Rehabilitation angewiesene Patienten nach schweren Operationen zu Hause und auf eigene Kosten behandelt werden müssen.

Zurzeit verzeichnet Ungarn mit rund 1500 Coronavirus-Patienten eine ausgesprochen niedrige Infektionsrate. Das ähnlich bevölkerungsreiche Tschechien, das seit dem 12. März mit streng eingehaltenen Isolationsregeln die Kurve erfolgreich flach hält, kommt dagegen auf rund 6500 Fälle. Im Nachbarland Österreich sind es sogar rund 15000. Trotz der niedrigen Zahlen befürchtet die von Orbán geführte Fidesz-Partei, dass ein massiver Anstieg an Infektionen bevorsteht. Der Minister für personelle Ressourcen, Miklós Kásler, verordnete deshalb, dass innerhalb kürzester Zeit 36 000 von insgesamt 60 000 Krankenhausbetten für schwere Coronavirus-Fälle bereitstehen müssen. Was dies für die übrigen Patienten und deren Verwandte in ohnehin schwierigen Zeiten bedeutet, ist nur schwer zu ermessen.

Entlassungen als willkommener Nebeneffekt?

In der Zwischenzeit rufen Oppositionsparteien der gesamten politischen Bandbreite die Regierungspartei auf, das Dekret zurückzunehmen. Die Parlamentarierin Ildikó Borbély Bangó der sozialdemokratischen MSZP warnte die Regierung davor, dass man andernfalls Gefahr laufe, mehr Opfer wegen verzögerter oder ausgebliebener medizinischer Maßnahmen bei anderen Erkrankungen zu verzeichnen als unter COVID-19-Patienten selbst. Weitere Stimmen weisen darauf hin, dass die Maßnahmen angesichts der niedrigen Infektionszahlen selbst im ungünstigsten Fall jeglicher Verhältnismäßigkeit entbehrten. Der Zugang zu elementarer medizinischer Versorgung ist ein im Grundgesetz verankertes Recht aller ungarischen Bürger. Während die politische Opposition die Regierung zu gesundem Augenmaß aufrief, enthob Kásler bereits mehrere angesehene Krankenhausdirektoren ihrer Posten – angeblich, weil sie in nur unzugänglicher Weise der zentralen Verordnung gefolgt seien.

Die Anordnung, innerhalb nur weniger Tage oftmals schwerkranke Patienten aus dem Krankenhaus zu entlassen, schadet mehr, als dass sie nützen würde. Sie ist aber durchaus symbolisch für den Regierungsstil Orbáns auch in ruhigeren Zeiten als diesen. Die absurden Maßnahmen erinnern an das 2018 erlassene Gesetz, das Obdachlosen verbot, weiterhin auf der Straße zu leben. Die ohnehin Marginalisierten wurden damit kriminalisiert und vollständig ihrer Menschenwürde beraubt. Mit der Verordnung präsentiert sich Budapest den Touristen, die seither in die Hauptstadt strömten, als Obdachlosen-frei, ganz nach der Devise: Was man nicht sehen kann, existiert auch nicht.

Irrsinn mit Methode

Jetzt soll das Gesundheitssystem, das seit Jahren notorisch unterfinanziert ist und unter dem Exodus medizinischer Fachkräfte ins europäische Ausland leidet, mit einer Kapazität von 36 000 freien Krankenhausbetten glänzen. Wie Gesundheitskommissarin Cecília Müller bekräftigt, soll dies vor allem deshalb geschehen, um Bilder wie aus anderen EU-Ländern von Coronavirus-Patienten auf Krankenhausgängen zu vermeiden. Nachdem Orbán in den vergangenen Jahren vor allem den Bau von Fußballstadien vorangetrieben und das Gesundheitssystem sträflich vernachlässigt hat, versucht der Ministerpräsident ähnlich wie Potemkin mit glänzenden Häuserfassaden die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass heimische Krankenhäuser für den angeblich stark ansteigenden Bedarf bestens vorbereitet sind. Dabei ist zweitrangig, dass die Gesundheit von vielen anderen, vor allem älteren Patienten aufs Spiel gesetzt wird.

Der Irrsinn dieser Verordnung lässt sich nur damit erklären, dass die Fidesz-Regierung den Kontext der Coronavirus-Krise nutzt, um mit blindem Aktionismus Autorität und Macht zu demonstrieren. Wenn sich die Verordnung außerdem dazu eignet, sich unbequemer Krankenhaus-Direktoren zu entledigen, umso nützlicher. Es ist möglich, dass dies nur ein Vorgeschmack darauf ist, was die ungarische (dissidente) Bevölkerung im Zuge der Dekret-Verordnung in der Zukunft zu erwarten hat – und das mitten in der Europäischen Union.


Beitragsbild: Viktor Orbán. Bild: European People’s Party / CC BY 2.0