Zum orthodoxen Osterfest (19.4.) stellen Corona-Einschränkungen Gläubige vor Herausforderungen. In Russland hilft manchmal nur noch Humor.

Dieses Ostern war das erste der deutschen Geschichte, an dem es Gläubigen verboten war, Gottesdienste zu besuchen. Natürlich wurde dagegen geklagt, das Berliner Verwaltungsgericht wies die Klage als unberechtigt zurück und erklärte dazu: Gottesdienste gehörten nicht zum „Kernbereich der Religionsfreiheit“, sie könnten durch anderes kompensiert werden, beispielsweise stille Andachten oder digitale Angebote der Kirchen. Es klingt absurd – Richter, die wohl eher nicht zu den Kirchgängern gehören, wissen ganz genau, dass Gottesdienste für die Gläubigen nicht zum Kern der Religion gehören, und verschreiben ihnen als religiös-medizinisches Mittel die Innerlichkeit!

Während die Leitungen der etablierten Kirchen hierzulande das Gottesdienstverbot hinnahmen, verhalten sich migrantische Glaubensgemeinschaften teils ähnlich, teils aber auch anders. Deren Grundstrategien werden nicht unbedingt in Deutschland entworfen, sondern in den religiösen „Zentralen“ der Herkunftsländer. Nehmen wir das Beispiel der russischen Orthodoxie. Die Grundlinie des Moskauer Patriarchats ist, Gottesdienste weiter stattfinden zu lassen, aber die Gläubigen dazu aufzurufen, zuhause zu bleiben. In Russland konnten – zumindest bis vor kurzem (siehe unten) – die Gläubigen selbst entscheiden, ob sie in einen Gottesdienst gehen oder nicht. Die Regelung ist ein wenig mit der katholischen bei uns verwandt – auch die katholische Kirche feiert weiter Gottesdienste, wobei deren Gläubige allerdings prinzipiell von der Anwesenheit ausgeschlossen sind. Orthodoxe Auslandsgemeinden, wie diejenigen in Deutschland, unterliegen zusätzlich der hiesigen Regulierung, d. h. Gottesdienste mit Anwesenheit von Gläubigen sind auch ihnen verboten. Dennoch finden sich orthodoxe Priester, die unter schweren juristischen Risiken Geheimgottesdienste abhalten. Auch in islamischen Gemeinschaften gibt es das Phänomen – vor Ostern versammelten sich mehrere hundert Menschen zum Freitagsgebet an einer Neuköllner Moschee. Die Polizei schritt nicht ein, was in Teilen der Berliner Stadtgesellschaft Verwunderung hervorrief, auch weil sie wenige Tage zuvor eine nicht genehmigte politische Demonstration mit säkularem Anliegen kompromisslos aufgelöst hatte.

Vitalität oder „Dahinwelken“

Zeigen sich hier „Parallelgesellschaften“, die gegen das Gemeinwohl handeln? Ich denke nicht. Denn die betreffenden Kleriker senden ihren Gläubigen ein sehr konkretes Signal, dass sie auch und gerade in diesen Zeiten für sie da sind. Womöglich wird sich dadurch mittelfristig das Ungleichgewicht zwischen großer religiöser Vitalität bei migrantischen Glaubensgemeinschaften und dem „Dahinwelken“ der etablierten Kirchen noch verschärfen. Denn das gemeinsame Präsenzgebet in Corona-Zeiten verstärkt die Bindungen innerhalb der religiösen Gemeinschaft; und „regelbrechende“ Priester können bei den eigenen Anhängern (auch wenn das gar nicht ihre Absicht ist) ein Prestige entwickeln, das noch lange über die jetzige Krise hinausreicht. Seuchentechnische Verantwortungslosigkeit kann man diesen Priestern nicht unbedingt vorwerfen – in dem mir bekannten Fall, der sich in einer südwestdeutschen Kleinstadt abspielte, gab es diverse Sicherheitsvorkehrungen, die nicht nur die Polizei, sondern auch Corona draußen halten sollten.

Schaut man in die Herkunftsländer, setzt sich das interessante Bild fort. In der russischen Orthodoxie gibt es sehr konservative bzw. fundamentalistische Strömungen, die auch unter dem Eindruck von Corona jegliche Änderungen ablehnen. Nicht wenige von ihnen glauben, dass religiöse Praktiken, die körperliche Nähe voraussetzen, nicht schädlich seien, weil göttliche Kräfte schon seit Jahrhunderten verhinderten, dass sich über das Küssen von Ikonen oder das gemeinsame Trinken aus dem Abendmahlskelch Krankheiten ausbreiteten. Sie bestehen auf dieser Position nicht so sehr aus purem Traditionalismus – sondern eher, weil sie der Vorstellung anhängen, dass Gott nach wie vor in der Lage sei, sich direkt in den Lauf dieser Welt einzumischen und auch deren Gesetze (einschließlich der naturwissenschaftlichen) außer Kraft zu setzen. Sich Hygienevorschriften zu beugen ist für sie gleichbedeutend mit einer Kapitulation vor säkularen Kräften, die Gott entthronen wollen.

Dabei ist die oberste Leitungsebene der Russisch-Orthodoxen Kirche gar nicht so radikal. Sie hat nicht nur, wie erwähnt, die Gläubigen aufgefordert, nach Möglichkeit zuhause zu bleiben; zusätzlich  werden seit einigen Wochen Desinfektionsmittel benutzt, um in bestimmten Abständen Kirchenräume zu desinfizieren; Ikonen und Kreuz sollen in der Corona-Krise nicht geküsst werden. Auch gibt es Mindestabstände zwischen den Gläubigen, die während der orthodoxen Gottesdienste bekanntlich stehen, nicht sitzen.  

Doch nicht alle folgen dem Patriarchat. So hat etwa die Bruderschaft des Dreifaltigkeitsklosters in Sergiev Posad bei Moskau (das zu den wichtigsten russischen Klöstern überhaupt gehört) im März den Patriarchen gebeten, die eigenen Gottesdienste weiter ohne jegliche Beschränkungen und Veränderungen feiern zu dürfen, weil es ein starkes „geistliches Bedürfnis und Bitten seitens der Bruderschaft des Klosters wie auch der Herde“ gebe und weil dem Kloster so „eine besondere Gnade Gottes und die Möglichkeit zuteilwerde, wenigstens etwas Stärke im Bekenntnis des Glaubens zu zeigen.“ Empirisch untermalt von Priesterberichten, dass in der der Gefangenenseelsorge seit Jahrzehnten das Abendmahl traditionell sowohl mit Tuberkulosekranken als auch mit HIV-Patienten gefeiert werde und sich trotzdem dadurch niemals jemand angesteckt habe, ging die Bitte an den Vorgesetzten des Klosters, den Moskauer Patriarchen Kyrill. Dessen Antwort ist mir nicht bekannt, aber auch so konnte ich erfahren, dass es in Russland Gemeinden gibt, in denen sich aufgrund „stiller Absprachen“ zwischen Priester und Gemeinde an den Praktiken nichts geändert hat.

Drastische Maßnahmen

In vielen Ländern des östlichen Europas fällt auf, dass drastische Maßnahmen durchgeführt werden, schon bevor das Virus sich stärker verbreitet. D. h., hier gibt es viele Länder mit teils rigorosen Ausgangssperren bei vergleichsweise „harmloser“ Corona-Statistik (die  auch eine  Folge begrenzter Testkapazitäten sein kann). Die Strenge mag damit zusammenhängen, dass es für diese Länder leichter ist, das öffentliche Leben anzuhalten als schnell ein leistungsfähiges medizinisches System aufzubauen. Gerade dort, wo autoritäre Tendenzen überwiegen, ist die Reputation „starker Männer“ bedroht, wenn Menschen mit Corona nicht mehr geholfen werden kann. Auch mangelndes Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten zeigt sich in den Maßnahmen – wo Deutschland den Menschen weitgehend Bewegungsfreiheit lässt und vor allem Abstand einfordert oder Schweden mit reinen Empfehlungen auskommt, werden den Bürgern im östlichen Europa teils drakonische Regeln auferlegt, mit denen der Staat direkt steuern kann, wer wann seine Wohnung verlassen darf.

Wie ein Blick in Online-Medien zeigt, sucht sich das Leben einen Weg, auch wenn er jetzt illegal ist. In der serbischen Vojvodina wurden vor ein paar Tagen zwei junge Männer aufgegriffen, die eine Arbeitserlaubnis gefälscht hatten, um aus ihrer Kleinstadt nach Novi Sad zu gelangen – auf sie wartet der Richter. In Russland stehen auf betreffende Dokumentenfälschungen (die ja nur angefertigt werden müssen, um das elementare Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu sichern) bis zu zwei Jahre Gefängnis. Gefängnisstrafe droht dort auch Infizierten, die aus der Quarantäne ausbrechen und andere anstecken – für einfache Fälle bis zu einem Jahr, bei Todesfolge mit bis zu fünf Jahren.

Überraschender Vergleich

Eine Überraschung zeigt sich im politischen Vergleich zwischen Deutschland und Russland. Beide Länder sind zwar der Verfassung nach Föderationen, aber es ist klar, dass nur in Deutschland der Föderalismus auch Verfassungswirklichkeit ist – oder zumindest war, bis Corona. Russland gilt dagegen zu Recht als zentralistisch, seine Verfassung als zahnloser Papiertiger, der bei Bedarf dann noch zusätzlich kastriert werden darf – wie jüngst, als die Verfassung blitzschnell umgebaut wurde, um Putin ein lebenslanges Verbleiben an den Schaltstellen der Macht zu ermöglichen. Angesichts der Unterschiede müsste man vermuten, dass in Deutschland der Föderalismus unterschiedliche Wege im Umgang mit Corona ermöglicht und in Russland aus der Hauptstadt vorgegeben wird, was zu tun ist, auch im fernsten Sibirien. Dabei ist eher das Gegenteil der Fall – deutsche Bundesländer, so selbstbewusst sie sonst auch sein mögen, haben es in der Corona-Krise schwer, Sonderwege zu verteidigen – insbesondere, wenn sie in Richtung Lockerung gehen wollen. In Russland dagegen können die Gouverneure und teils auch die Bürgermeister selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie treffen. Es gibt Gebiete, in denen jeglicher Ausgang über den Weg zur Mülltonne oder das nächste Geschäft hinaus meldepflichtig ist – meist über eine Webseite, die dann einen QR-Code generiert, mitzuführen als Ausdruck oder auf dem Handy. Führend bei den Überwachungssystemen war Moskau, aber auch die Republik Tatarstan, die sich dann wiederum den anderen Regionen als Vorreiterin und Gehilfin anbot. Kaliningrad meldete vorletzte Woche Interesse an, immerhin hatte die Stadt von knapp 440 000 Einwohnern da bereits 1 (in Worten: einen!) evidentierten Coronafall.

Die computergestützten Überwachungssysteme sehen nur bestimmte legitime Ausgangsgründe vor. Im Gebiet Astrachan‘ am Kaspischen Meer etwa sind das: der Weg zur Arbeit, Arztbesuche, Pflege von Verwandten, freiwillige Dienste (Feuerwehr u. Ä.), Kindsgeburten, Beerdigungen, undefinierte „Extremsituationen“ – und auch das immer mit der Maßgabe, dass der Weg direkt, ohne jegliche Schlenker und Abweichungen, zurückgelegt wird. Falls zur Legitimierung dieser Bedürfnisse falsche Dokumente vorgelegt werden – siehe oben. Wer die entsprechende Wegeerlaubnis nicht hat, darf weder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen noch ein Auto fahren. Gottesdienstbesuche sind in der Liste nicht mehr aufgeführt.

Natürlich gibt es Menschen, die über die Maßnahmen verbittert und empört sind. Der Zusammenhang zur Corona-Bekämpfung erscheint allzu vage, das Handeln der Behörden herablassend. Im Internet kursieren Filme, die harte Polizeigewalt gegen Menschen zeigen, die mehr als 100 Meter von ihrer Wohnung angetroffen wurden; deren Authentizität kann von aus der Ferne nicht überprüft werden, aber sie passen durchaus zum Image und bekannten Praktiken russischer Ordnungshüter, etwa auf Demonstrationen.

Verkehrte Welt

Der russisch-orthodoxe Metropolit von Saratov stellt sich und seine Gläubigen darauf ein, dass es auch zum orthodoxen Osterfest (das dieses Jahr eine Woche nach dem westkirchlichen stattfindet, also am 19. April) ähnliche Szenen geben könnte. Das Verbot des Gottesdienstbesuchs vergleicht der Metropolit mit den sowjetischen Religionsverfolgungen, und er will die Kirchen offenhalten für diejenigen, die unbedingt in den Gottesdienst wollen. Er warnt seine Gläubigen vor Polizeikräften, die sich ihnen in den Weg stellen würden; polizeiliche Übergriffe sollen sie dem Handy dokumentieren. Es ist eine verkehrte Welt – unsere westlichen Kirchen, teilweise in Distanz zum Staat großgeworden, verhalten sich jetzt eher kooperativ, die orthodoxe, bekannt als klassische Stütze des Staates, zeigt sich zumindest in Teilen als widerborstig.

Auch bei säkularen Menschen verbreitet sind Existenzängste, weil Haushalte oft nicht über die geringsten Ersparnisse verfügen, viele durch jahrzehntelange Tätigkeit in der grauen, informellen Ökonomie keine Anrechte auf staatliche Unterstützungsleistung erworben haben. Die Stundung von Rechnungen, mit denen Russland wie auch Serbien Privathaushalte entlasten, dürfte auf Dauer nicht ausreichen, um die Probleme abzufedern.

Der Corona-Stress ist gruppenpsychologisch nicht ohne Sprengstoff in einem Raum, in dem Verschwörungstheorien gern geglaubt werden, zum Beispiel diejenige, die vor einigen Tagen auf mein Smartphone geflattert kam: Corona sei von Bill Gates erdacht worden, um über einen dann zwangsweise zu verteilenden Impfstoff vor allem in Afrika fruchtbarkeitshemmende Zusatzsubstanzen spritzen und so der wachsenden Weltbevölkerung Herr werden zu können. Bill Gates ist schon lange eine Hassfigur russischer Antiglobalisten.

Auch sonst muss vermutet werden, dass eine harte und unmenschliche Politik schwer wiedergutzumachenden Schaden anrichtet. An Menschen ohne Smartphone, ohne Computer, von denen es im nach wie vor armen Russland viele gibt, scheint bei der Corona-Bekämpfung nicht gedacht worden zu sein. Wer nichts davon besitzt und keinen Lebensmittelladen in der Nähe hat, kommt eben nur bis zur Mülltonne … bleibt zu hoffen, dass verschiedene Hilfaktionen für Ältere, von denen die russische Presse häufiger berichtet, die Menschen auch erreichen.

Isolation als „virologischer Vorteil“

Neben Rigorosität gibt es auch starke Ausschläge in die andere Richtung. Da verweigern sich im Gebiet Saratow manche Kommunen dem Lockdown mit dem Argument, in der eigenen Gemeinde gebe es kein Corona. So ist es auch in der sibirischen Kleinstadt Sajansk, die nicht an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen ist, deren Isolation also jetzt als „virologischer Vorteil“ gilt. Hier gibt es kaum einschränkende Maßnahmen, die Geschäfte sind geöffnet. Der Bürgermeister gilt in den sozialen Medien sogar als eine Art Robin Hood. Er hatte öffentlich kritisiert, die Einschränkungen in vielen Teilen Russlands beträfen nur die Sektoren, die nicht mit der Politik verbandelt seien – damit war das bislang häufige Muster gemeint, wonach die Bauwirtschaft weiterarbeitete, Friseure dagegen schließen mussten.

Aber warum dürfen in Russland „Provinzfürsten“ überhaupt selbst über die Maßnahmen entscheiden? Einerseits erlaubt dies in dem Riesenland regionale Flexibilität; andererseits ist hier eine typisch Putinsche Regierungstechnik am Werk. Wenn es um riskante Maßnahmen geht, deren Sinn und Folgen nicht absehbar sind, bei denen der Staat also viel verlieren kann, ist es für die Zentrale wichtig, dass eventuelle Fehlschläge nicht ihr angelastet werden. Daher sitzt eigentlich jeder Bürgermeister und jeder Gouverneur auf dem Schleudersitz, sollte infolge der eigenen Maßnahmen sich entweder das Virus oder aber die Armut allzu sehr ausbreiten. Der Kreml könnte in diesem Falle immer auf die Eigenverantwortlichkeit der Regionen verweisen, diese sogar als demokratische Errungenschaft feiern, und dann, mithilfe der gelenkten Presse und anderer Instrumente, unliebsame Vertreter regionaler und lokaler Staatlichkeit aus dem Amt drängen oder gar strafrechtlich belangen.

In schwierigen Lagen, das ist aus realsozialistischen Zeiten noch gut bekannt, helfen Witze. In den sozialen Netzwerken kursiert ein montiertes Foto, auf dem ein Mann auf dem völlig zerbröselten Balkon eines heruntergekommenen Wohnhauses aus der Chruschtschow-Zeit hockt und sagt: „Verdammt, wie kann ich Italien helfen?“ – ein ironischer Kommentar auf die Entsendung russischer Militärärzte nach Italien in einer Situation, in der unsicher ist, ob Russland im Zweifelsfall in der Lage wäre, die eigene Bevölkerung zu schützen. Ein anderer Witz geht so: „Zur Vorbeugung einer Corona-Infektion stecken Sie Ihre Hände am besten in eine Schubkarre mit Pferdemist. Warum? Das verhindert erstens, dass Sie sich mit der Hand ins Gesicht fassen. Zweitens wird Ihnen niemand mehr die Hand geben wollen. Und drittens werden alle einen Bogen um Sie herum machen.“ Wie praktisch – vor allem wenn ein langer Lockdown uns wieder zu Reiternomaden machen sollte.


Beitragsbild: Die Basilius-Kathedrale in Moskau. Bild: (beschnitten) m-guffler via Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0