Die Corona-Krise fördert im östlichen Europa Gutes wie Schlechtes zutage. Die Einleitung zum Blog enthält Beispiele – und eine Mahnung.

Unvorhergesehene, durch externe Schocks verursachte Krisen stellen nicht nur eine große Herausforderung für Gesellschaften und ihre politischen Institutionen dar, sie offenbaren auch fundamentale Funktionsmechanismen eines Landes – im positiven wie im negativen Sinne. Hat ein Land Strukturen und Mechanismen aufgebaut, die man zur Bewältigung der Krise mobilisieren kann? Gibt es die nötigen Fachleute, hört die Politik auf sie, und vertraut die Gesellschaft den Expertinnen und Experten? Hat man aus vergangenen Krisen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen? Sind systemrelevante Bereiche ausreichend ausgestattet, um eine außerordentliche Belastung eine Zeitlang durchzustehen? Kurz, die Krisenresilienz eines Landes basiert auf Entscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden, ebenso wie darauf, dass momentane Entscheidungsträger adäquat reagieren.

Im europäischen Kontext gilt v. a. für die Staaten Ost- und Südosteuropas Resilienz als fraglich – die Region ist nicht nur der ärmste Teil Europas, auch Beispiele für gutes Regieren finden sich hier selten. Was bedeutet in einer solchen Situation eine Pandemie, die auch in deutlich reicheren Ländern dramatische Folgen zeitigte? In dem neuen Blog des IOS zur Corona-Krise in Ost- und Südosteuropa werden wir uns an Antworten darauf versuchen. Bei unseren Einschätzungen greifen wir zurück auf unsere tiefgehende Kenntnis der Länder der Region.

Niemand kann zum aktuellen Zeitpunkt (15. April 2020) die mittel- und langfristigen Folgen dieser Krise vorhersagen; selbst das pandemische Geschehen lässt sich angesichts einer hohen Dunkelziffer von Infizierten nicht verlässlich prognostizieren. Die Prognose, dass „nach Corona“ das Leben ein anderes sein werde als zuvor, klingt zwar plausibel, allerdings wissen wir das nicht, zumal noch nicht gesagt werden kann, wann und wie der medizinische Teil der Krise überstanden sein wird. Für manche Bereiche – wie die Wirtschaftspolitik, wo längerfristig eine stärkere Rolle des Staates und eine Abkehr von Austerität zu erwarten ist, oder auch die Gesundheitspolitik – lässt sich heute schon mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Wandel vorhersagen als für andere. Aber aktuell sollte man vor allem eine grundsätzliche Lektion aus der Pandemie ziehen: Die Halbwertszeit von Prognosen kann verdammt kurz sein.

Die Corona-Krise sagt viel über den Zustand der Region aus, im Positiven wie im Negativen.

Was man aber schon sagen kann, ist, dass der Coronavirus zwar überall derselbe zu sein scheint, aber sehr unterschiedliche Reaktionen provoziert. Seine längerfristigen Folgen werden ebenfalls unterschiedlich sein – je nach der institutionellen Ordnung und den Machtkonstellationen sowie den Ressourcen der einzelnen Länder, die von dem Virus heimgesucht wurden. Eine extreme Krise wirkt wie ein Brennglas – Ziel unseres Blogs ist es daher, die spezifischen Probleme, Herausforderungen und Reaktionen, die sich in Ost- und Südosteuropa zeigen, zu analysieren; denn die Corona-Krise sagt viel über den Zustand der Region aus, im Positiven wie im Negativen. Einige Beispiele aus Südosteuropa sollen dies verdeutlichen.

Politik und der Corona-Virus

Die Regierungen Südosteuropas haben durchweg rasch reagiert sowie frühzeitig Ausgangsbeschränkungen und Social-Distancing-Regeln erlassen, die Krankenhäuser auf Notfallbetrieb umgestellt und die Grenzen mehr oder weniger geschlossen – im Wissen um die Fragilität der nationalen Gesundheitssysteme. Sie folgen dabei im Großen und Ganzen den Empfehlungen der WHO und der nationalen Experten. Teilweise wurden auch sehr radikale Beschränkungen des Alltagslebens verordnet: In Nordmazedonien etwa gilt eine totale Ausgangssperre ab 16 Uhr und fürs Wochenende, Jugendliche unter 18 Jahren sowie Menschen über 67 dürfen nur zwei Stunden am Tag raus. In Serbien darf man an Werktagen nach 17 Uhr nicht mehr auf die Straße, am Wochenende nicht nach 15 Uhr. In Bosnien-Herzegowina dürfen über 65-Jährige das Haus nicht verlassen bzw. im serbischen Landesteil nur an zwei Tagen der Woche für jeweils drei Stunden am Morgen – und bisher scheint sich die Bevölkerung weitgehend daran zu halten (auch angesichts hoher Strafen). In Kroatien wurde der Chefmediziner des Krisenstabs regelrecht zum Medienstar. In Bulgarien hat sich die Regierung – endlich! – von ihrer Nulldefizitpolitik verabschiedet, und Regierungsmitglieder, Parlamentsabgeordnete sowie die höchsten politischen Beamten verzichten für die Dauer des Notstands auf ihr Gehalt und lassen es dem Gesundheitssystem zukommen.

Manche politische Reaktion deutet darauf hin, dass selbst die borniertesten Nationalisten wenigstens kurzfristig auf Zusammenarbeit setzen: In Bosnien-Herzegowina ließ sich der Separatist Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, zu einem Einheitsappel an den Gesamtstaat hinreißen (dessen Handlungsfähigkeit er ansonsten nach Vermögen unterminiert). Prishtina und Belgrad kommunizieren intensiver miteinander als sonst, um das Vorgehen gegen den Virus (etwas) abzustimmen, immerhin wird der Norden Kosovos, inklusive der dortigen Krankenhäuser, faktisch von Serbien aus kontrolliert.

Gleichzeitig treten jedoch auch unerfreuliche Strukturelemente deutlich zu Tage: Ungarn hat sich durch die Selbstentmächtigung des Parlaments, in dem die Regierungspartei über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, auch formell zur Diktatur transformiert (und die Regierung nutzt die Krise, um etwa per Gesetz die Diskriminierung von Transgender-Menschen zu verfestigen oder dubiose Wirtschaftsabkommen mit China zum Staatsgeheimnis zu machen). In Serbien wurde das ohnehin bescheidende Niveau der Pressefreiheit weiter geschwächt, nachdem die Regierung per Dekret am 28. März bestimmte, dass die Medien nur Corona-Informationen vom nationalen Krisenzentrum publizieren dürfen; prompt wurde eine Journalistin, die über Missstände in einem Krankenhaus berichtete, für eine Nacht in Polizeigewahrsam genommen.

Unerfreuliche Strukturelemente treten in der Krise deutlich zu Tage: Ungarn hat sich durch die Selbstentmächtigung des Parlaments auch formell zur Diktatur transformiert.

In Kosovo zerbrach eine nur wenige Wochen alte Regierungskoalition, und das Parlament sprach auf Betreiben des Staatspräsidenten dem Ministerpräsidenten das Misstrauen aus; vorgeblich ging es um die Reaktion der Regierung auf die Corona-Krise, wirklich aber um den Dauerkonflikt zwischen unterschiedlichen Machtkartellen, wobei angeblich auch der unsägliche Botschafter der USA in Deutschland, Richard Grenell, zurzeit amtierend-dilettierender Geheimdienstkoordinator der US Regierung, seine unrühmliche Hand im Spiel hat. In Rumänien wiederum stürzte der Gesundheitsminister über einen vermuteten Korruptionsskandal – wie konnte es anders sein? – und das mitten in einer dramatischen Krise: Das Zentrale Nationale Beschaffungsamt hatte medizinische Ausrüstung (Schutzmasken etc.) zu überhöhten Preisen von einer Gastronomiefirma bestellt, die auf einen Koch registriert ist und mit einem dubiosen, aber politisch bestens vernetzten rumänischen Geschäftsmann verbunden sein soll.

Auch außen- und europapolitisch zeigen sich manche Regierungschefs von ihrer „besten“ Seite: Viktor Orbán bemängelt die fehlende Unterstützung durch die EU, obwohl er wissen sollte, dass Gesundheit und Inneres nicht in deren Kompetenzbereich fallen; und natürlich verschweigend, dass Ungarn jährlich mehrere Milliarden Euro aus Brüssel erhält – auch für die Modernisierung seines Gesundheitswesens. Das abrupte Schließen der Grenzen für Staatsbürger anderer Länder, was zu epischen Staus an den Grenzübergängen zu Ungarn geführt hat, war auch kein Akt europäischer Solidarität: Zigtausende rumänische und bulgarische Arbeitsmigranten und viele andere mehr hatten darunter zu leiden, obwohl sie durch Ungarn nur hindurch wollten. In Serbien bemängelt der autoritär regierende Staatspräsident Aleksandar Vučić ebenfalls ausbleibende Hilfe seitens der EU, ließ dafür aber eine Hilfslieferung aus China groß inszenieren: Sie kam mit der Präsidentenmaschine, und Vučić persönlich holte die medizinischen Experten aus China vom Flughafen ab. Die Regierungspropaganda bejubelt nur die Freundschaft mit Beijing und Moskau. Und übertönt damit den Umstand, dass die EU regelmäßig viel mehr Geld nach Belgrad überweist als China und Russland zusammen; so wie Brüssel übrigens auch jetzt für Serbiens Krisenbewältigung fast 100 Millionen Euro bereitstellt.

Soziale Auswirkungen

Südosteuropa ist die ärmste Region Europas, insofern müssen die Regierungen darauf hoffen, dass ihre frühzeitigen Isolationsmaßnahmen eine Überlastung der schwachen Gesundheitssysteme verhindern. Diese Systeme leiden unter geringen Mitteln sowie notorischer Korruption – aber auch darunter, dass Mediziner und Pflegepersonal massenhaft auswandern, angesichts geringer Gehälter und viel besserer Verdienstmöglichkeiten in Ländern wie Deutschland und Österreich (Österreich wiederum fragt sich jetzt, wie die Pflege aufrechterhalten werden kann, wenn keine Fachkräfte aus den östlichen Nachbarländern oder Rumänien mehr einreisen dürfen). In Rumänien haben bereits einige Ärzte den Dienst quittiert, da es an elementaren Schutzmaßnahmen in ihren Krankenhäusern fehlt (siehe Korruption); in der Stadt Suceava musste ein wichtiges Bezirkskrankenhaus unter Quarantäne gestellt werden, weil sich Teile des Personals aufgrund fehlender Schutzmaßnahmen mit dem Virus angesteckt haben.

Zu den ersten, aber auch einschneidendsten Maßnahmen der Regierungen nicht nur Südosteuropas gehörten Einreisebeschränkungen, teils auch Ausreiserestriktionen. Diese machen nur noch deutlicher, wie stark die Region durch Migration geprägt ist. Wie erwähnt, mussten Zehntausende rumänische und bulgarische Staatsbürger viele Stunden an der Grenze zu Ungarn warten, als sie in ihre Heimat zurückkehren wollten. Der Außenminister Sloweniens appellierte an die Landsleute im Ausland, in Ländern mit einen guten Gesundheitssystem zu bleiben und vorerst nicht heimzukehren. Auch das bosnische Außenministerium empfahl den vielen Migranten aus dem Land, nicht zurückzureisen – hier auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bosnische Staatsbürger, die ihren Job verlieren, womöglich ihr Aufenthaltsrecht in einem EU-Land verlieren.

In der Republik Moldau müssen Heimkehrer nicht nur eine spezielle Gebühr für den Covid-19-Test zahlen, sondern wurden von der Regierung auch verpflichtet, sich eine moldauische Krankenversicherung zu kaufen – was zu heftigen Debatten in den sozialen Medien und Kritik durch die Opposition führte, ist doch Moldova hochgradig von den Rücküberweisungen seiner zahlreichen Arbeitsmigranten (rund ein Viertel der Bevölkerung) abhängig. In Serbien, wo in „normalen“ Zeiten die Rückkehr als die patriotische Pflicht der Arbeitsmigranten deklariert wird, entdeckte die Regierung in ihnen einen praktischen Sündenbock für den raschen Anstieg der Infiziertenzahlen. Präsident Vučić bezeichnete es als den „einzigen Fehler“ seiner Regierung, serbische Staatsbürger aus dem Ausland wieder einreisen gelassen zu haben (ungeachtet der Tatsache, dass er sich im Februar noch über den Corona-Virus, ganz Trumpianisch, lustig gemacht hatte). Laut Vučić sind im März mehr als 317 000 serbische Migranten zurückgekehrt, was die hohe Zahl der Infizierten erkläre. Mittlerweile hat Serbien seine Grenzen selbst für eigene Staatsbürger geschlossen.

Zu befürchten steht, dass bald besonders vulnerable Gruppen die Rolle als Sündenbock aufgedrückt bekommen; angesichts der hohen Frequenz, mit der Gerüchte, Verschwörungstheorien, Lügen und aller möglicher Unsinn von dubiosen balkanischen Medien und ebensolchen Politikern verbreitet werden, ist dies nur eine Frage der Zeit. Schon jetzt ist klar, dass die große Roma-Bevölkerung Südosteuropas besonders unter der Krise zu leiden hat – als ohnehin vielfach marginalisierte und diskriminierte Bevölkerungsgruppe. Wie soll man auch in einer überfüllten Bretterbude soziale Distanz wahren? Wie soll man ohne fließendes Wasser (z. B. in Albanien haben fast 60 % der Romahaushalte keines) sich regelmäßig die Hände waschen, wie sich behandeln lassen ohne Krankenversicherung (im Kosovo hat beispielsweise nur rund ein Zehntel der Roma Krankenversicherung)? Und wie kommt man in den Genuss staatlicher Hilfen für Klein(st)unternehmer oder Berufstätige, wenn man immer nur in der Schattenökonomie tätig sein kann? Die Roma als Bedrohung der „Volksgesundheit“ darzustellen, wäre für Rassisten und Rechtsextreme in der Region kein Novum – der stellvertretende bulgarische Ministerpräsident Krasimir Karakačanov etwa ist auch schon vor Corona einschlägig aufgefallen.

Ähnliches Unheil droht Flüchtlingen und Migranten, deren Fluchtwege in Südosteuropa vorläufig endeten; vor allem die Flüchtlingslager in Griechenland, in denen furchtbare sanitäre Verhältnisse herrschen, sind für einen Ausbruch der Epidemie prädestiniert; eine Verteilung der dort gestrandeten Menschen auf ganz Europa hat schon vor der Pandemie nicht funktioniert, aktuell ist nicht einmal die „Koalition der Willigen“ dazu in der Lage. In den von der International Organization for Migration betreuten temporären Aufnahmezentren in Bosnien-Herzegowina, die mehr als 6000 Flüchtlinge beherbergen, wurden noch keine Infektionen festgestellt, die lokale Politik und Medien präsentieren sie aber als Zeitbombe; Hunderte Flüchtlinge wurden zwangsisoliert, obwohl es bisher keine positiven Befunde gab. Angesichts des zu erwartenden wirtschaftlichen Einbruchs aufgrund der Pandemie ist zu befürchten, dass Regierungen und Mehrheitsgesellschaften in Zukunft noch weniger Aufmerksamkeit der Lage dieser besonders verletzbaren Gruppen zuwenden werden.

Schluss

Wie sich Südosteuropa – und analog dazu Osteuropa – 2021 aufgrund der Corona-Pandemie verändert haben werden, lässt sich noch kaum abschätzen; die Region wirkt ökonomisch und sozial besonders verletzlich, da sie so hochgradig vom Rest Europas abhängig und ohnehin im Durchschnitt ärmer ist: Kroatien, Griechenland und Montenegro, aber auch Bulgarien werden massiv unter dem Einbruch des Tourismus leiden; Ungarn wird seine Exportabhängigkeit und Funktion als verlängerte Werkbank v. a. deutscher Firmen spüren, wenn Zulieferketten neugestaltet werden; fast alle Länder der Region werden einen Rückgang in den Überweisungen der Migranten erleben – für einige ist dies regelrecht fatal –, und die Möglichkeit der Auswanderung wird auf absehbare Zeit geringer sein.

Doch wie die einzelnen Länder auf diese Schwierigkeiten reagieren und ob sie nicht letztlich doch einen Weg finden, Resilienz aufzubauen, ist noch keineswegs klar; das haben zu einem gewissen Teil die politischen Eliten auch selbst in der Hand – und sind gleichzeitig von der Handlungsfähigkeit der EU abhängig. Insofern spiegelt Südosteuropa – wieder einmal – Europa wie im Brennglas und im Kleinen wider.


Anmerkung

Dieser Beitrag fußt auf Berichten v. a. des Balkan Investigative Reporting Network, BIRN (https://balkaninsight.com/), sowie auf den Nachrichten von Radio Free Europe/Radio Liberty (https://www.rferl.org/), nationalen Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen der einzelnen Länder sowie auf Meldungen der österreichischen Tageszeitung Der Standard (https://www.derstandard.at/) und des Newsportals des ORF (https://orf.at/), die beide vergleichsweise intensiv über Südosteuropa berichten.