Covid-19 hat zur Schließung nationaler Grenzen geführt. Die Medizingeschichte legt aber im Gegenteil internationale Zusammenarbeit nahe.

Ende März, Anfang April wurden innerhalb von einigen Tagen (27.03. (( „Australia’s Trialing a TB Vaccine Against COVID-19, And Health Workers Get It First“, https://www.sciencealert.com/australia-is-trialling-a-tb-vaccine-for-coronavirus-andhealth-workers-get-it-first – съобщение.)), 28.03. (( Miller A, Reandelar MJ, Fasciglione K, Roumenova V., Li Y, Otazu GH.: „Correlation between universal BCG vaccination policy and reduced morbidity and mortality for COVID-19: an epidemiological study“, MedRxiv. 2020:2020.2003.2024.20042937.)), 1.04. (( Anita Shet, Debashree Ray, Neelika Malavige, Mathuram Santosham, Naor Bar-Zeev: “Differential COVID-19-attributable mortality and BCG vaccine use in countries“, MedRxivhttps://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.01.20049478v1.full.pdf.)) ) auf größeren medizinischen Internetplattformen (Sciencealert und Medrxiv) Preprints veröffentlicht, in denen australische Epidemolog*innen und Wissenschaftler*innen von akademischen Institutionen in den USA und in Sri Lanka eine Korrelation zwischen einer obligatorischen Anti-Tuberkulose-Impfung (sog. Bacille Calmette-Guérin, BCG) und geringerer Mortalität von Covid-19-Patient*innen postulieren. In der Situation einer schweren Pandemie, die großes Leid, Ängste und Unsicherheit, aber auch Hoffnungen auf wirksame Arzneimittel weckt, verbreiten sich solche Nachrichten wie ein Lauffeuer und lösen gewaltige Reaktionen aus.

Die Bedeutung des Themas ist so groß, dass am 12. April 2020 die Weltgesundheitsorganisation WHO nach einer Evidenzprüfung der wichtigsten wissenschaftlichen Datenbanken und Repositorien für klinische Studien mit einer Stellungnahme zu dem behaupteten Zusammenhang von BCG-Impfung und größerer Anti-Covd-19-Resilienz hervortritt: Die Stellungnahme betonte den vorläufigen Charakter der vorab publizierten Berichte; die Komplexität der Faktoren, die die Ausbreitung der Pandemie beeinflussen; und den Mangel an Ergebnissen laufender klinischen Studien, welche einen längeren Zeitraum erfordern. Die offizielle Aussage der WHO ist, dass die Verwendung von BCG zur Vorbeugung und Behandlung von Covid-19 nicht empfohlen wird, dass aber die BCG-Impfung von Neugeborenen in Ländern mit einer hohen Tuberkulose-Inzidenz weiterhin befürwortet wird.

Diese Diskussion fand in Bulgarien eine besonders hohe Resonanz. Ende März veröffentlichten die Internet-Plattform Mediapool.bg (( https://www.mediapool.bg/vrazka-mezhdu-vaksinata-btszh-i-smartnostta-ot-covid-19-otkriha-epidemiolozi-ot-sasht-news305469.html)) und die bulgarischen Sektion des amerikanischen (US-)Magazins Forbes ((  https://forbesbulgaria.com/2020/03/31/8843/)) Artikel über die einschlägige Forschung amerikanischen Wissenschaftler*innen am New York Institute of Technology (u.a. einer Bulgarin) sowie Informationen über den Beginn klinischer Prüfungen in den USA, Australien, den Niederlanden und Deutschland. Warum interessierte sich die bulgarische Öffentlichkeit so sehr für diese komplizierte medizinische Fachfrage?

Vergessene historische Namen und Fakten

Nach der offiziellen Reaktion der WHO kam es zu einem regelrechtem Medienboom zum Thema BCG und Covid-19 in Bulgarien. Unter den ersten war die Online-Regionalzeitung 24 Stunden Plovdiv, in welcher mit dem Titel „Dr. Srebra Rodopska führte halb legal den ersten BCG Impfstoff in Bulgarien ein“ die bis dahin kaum bekannte historische Persönlichkeit einer bulgarischen Mikrobiologin vorgestellt wurde.

Der Artikel beginnt mit der Aussage „im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie vermehren sich die Beweise, dass in Ländern, in denen es obligatorische Anti-Tuberkulose Impfungen gibt, die Krankheit milder verläuft. […] Jüngsten Studien zufolge ist dort die Inzidenz von Covid-19 sechsmal geringer.“ Fett hervor gehoben heißt es weiter, dass „Bulgarien das zweite Land der Welt ist, welches den Impfstoff in seinen Impf-Plan eingeführt hat“. Es war die Ärztin und Mikrobiologin Srebra Rodopska, die im Jahr 1948 den BCG Impfstoff aus Frankreich nach Bulgarien gebracht hatte und ihn zum Substamm Sofia SL 222 weiterentwickelte, so die Regionalausgabe, die auch nicht vergaß, auf die Wurzeln der Familie in der Region hinzuweisen. Die Veröffentlichung basiert auf einem Interview mit dem Enkel der Mikrobiologin, Georgi Bobev. (( https://m.24plovdiv.bg/ojivlenie/article/8440153))

Der Fernsehsender BTV lud daraufhin den Enkel ein; seine Erzählung über seine Großmutter wird im Dialog mit der Journalistin des Senders durch Archivfotos ergänzt. (( https://btvnovinite.bg/predavania/tazi-sabota-i-nedelia/istorijata-na-d-r-srebra-rodopska-na-kojato-dalzhim-balgarskata-tuberkulozna-vaksina.html)) Bilder und Text wurden danach in einer Reihe digitaler Medien weiterverbreitet. In Medien wie Standard, Ladyzone u. a. wurde besonderes Augenmerk auf das Faktum gelegt, dass es sich um eine Frau handelte, wobei die Präsentation von Dr. Srebra Rodopska in der Rubrik „Lifestyle / Curious“ platziert wurde. (( https://www.standartnews.com/lifestyle-lyubopitno/koya-e-d-r-srebra-rodopska-dala-ni-btszh-vaksinata-421343.html%20–%2018.04.2020))

Am Tag, an dem Dr. Rodopska 107 Jahre alt geworden wäre, am 17. April, veröffentlicht die Online-Plattform Girls from the City einen Beitrag über „eine außergewöhnliche bulgarische Frau, die entschlossen war, Ärztin zu werden, um Infektionskrankheiten zu bekämpfen“. Mit den einleitenden Worten, dass „Wissenschaftler aus aller Welt untersuchen, ob der Tuberkulose-Impfstoff die natürliche Immunität gegen Viren und Atemwegserkrankungen stärkt“, präsentierte die Erinnerungen der Enkelin, Srebrina Bobeva an ihre Großmutter: „Dr. Srebra Rodopska, eine Wissenschaftlerin mit großem Beitrag für die Entwicklung des bulgarischen BCG Impfstoffs, das derzeit weltweit in mehr als 180 Ländern eingesetzt wird.“ ((https://momichetata.com/buditelkite/kogato-baba-ti-e-sposobna-da-promeni-sveta-istoriyata-na-d-r-srebra-rodopska-na-koyato-dlzhim-btszh-vaksinata))

Die kurze Darstellung von Leben und Werk von Srebra Rodopska in den Reportagen, die auf den Gesprächen mit dem Enkel und der Enkelin basieren, ist fast dieselbe: Srebra Rodopska wurde 1913 in Sofia in eine Lehrerfamilie geboren. Im frühen Alter entschloss sie sich für den Beruf der Ärztin. Nach dem Medizin Abschluss begann sie am Institut für Infektions- und Parasitenkrankheiten in Sofia zu arbeiten – heute das Nationales Zentrum für Infektionskrankheiten –, wo ihre gesamte, über 30-jährige Karriere verlief. 1948 reiste Rodopska mit ihrem Ehemann, Tasho Tashev, ein Gastroenterologe und Facharzt für Innere Medizin, nach Paris, wo sie fast ein Jahr lang die Methoden zur Herstellung von Impfstoffen am Institut Louis Pasteur studiert.

Mit dem von ihr mitgebrachten französischen Lebendimpfstoff begannen in Bulgarien intensive Prüfungen zur Produktion und Einführung des Impfstoffs gegen Tuberkulose. Hergestellt wurden Kleinserien, deren Eigenschaften unter Laborbedingungen durch von Rodopska eingeführten Kontrollmethoden getestet wurden. Mit dem hergestellten Impfstoff begannt die orale Impfung von Neugeborenen in Bulgarien. Da jedoch bei einem Prozent der Immunisierten eine Lymphadenitis beobachtet wurde, ersetzte Rodopska den französischen Stamm durch den aus Moskau stammenden Substamm 374A (BCGI) und adaptierte ihn. Der neue Stamm erwies sich als geeigneter, die klinischen Prüfungen bestätigten eine geringere Restvirulenz und hohe Immunogenität.

Ab 1951 wurde in Bulgarien die BCG-Immunisierung für alle Neugeborenen und Kinder bis 18 Jahre mit einem negativen Mantoux-Test (Tuberkulinempfindlichkeit) im obligatorischen Impfplan eingeführt. Die Tuberkulose-Inzidenz in allen Altersgruppen, insbesondere bei Kindern, nahm daraufhin stark ab. Eine Diplomandin von Rodopska vermittelte das Verfahren in Vietnam. Rodoposka und ihr Team führten detaillierte Studien zu den Eigenschaften von BCG-Stämmen sowie zur Verfeinerung und Standardisierung des Impfstoffs durch. In der heutigen Berichterstattung wird auch darauf hingewiesen, dass Bulgarien bei der Einführung der obligatorischen BCG-Impfung an erster Stelle in Europa und weltweit an zweiter Stelle nach Japan stand. (( https://www.bnr.bg/en/post/101250593/prof-despotova-well-known-tuberculosis-vaccine-might-turn-into-barrier-for-coronavirus https://www.novinite.com/articles/204095/Countries+with+Mandatory+Policies+to+BCG+Vaccine+Register+Fewer+Coronavirus+Deaths)) Der bulgarische Substamm wurde in den 1950er Jahren auf internationale Foren diskutiert und wird heute in über 180 Ländern exportiert.

Die Medienbeichte über Rodopska sind sehr ähnlich, die Unterschiede sind klein, doch wesentlich: In Texten, die auf dem Gespräch mit dem Enkel basieren, wird die „leicht illegale Überfuhr des französischen BCG-Stammes vom Louis Pasteur-Institut nach Bulgarien“ hervorgehoben, in einigen sogar als Titel: „Dies sind die Umstände gewesen. Es hat Probleme beim Export des Stammes gegeben, da es immerhin eine französische wissenschaftliche Entdeckung gewesen ist, aber sie [Rodopska und ihr Ehemann] haben es geschafft.“ (( https://m.24plovdiv.bg/ojivlenie/article/8440153))

Von den konkreten Namen zur Gegenüberstellung der Systeme

Aus der Durchsicht diverser Internetforen lässt sich die Thesen ableiten, dass die Betonung des heroischen Elements eine besondere Interpretation der Krise nahelegt: Sie stärkt die bulgarische Reaktion entlang der Motive „Eiserner Vorhang“ und der Gegenüberstellung „Sozialismus vs. Kapitalismus“; die folgenden Meinungsäußerungen aus diversen Foren illustrieren dies:

„Gut, dass es den Sozialismus gab, so sind wir geimpft und jetzt ist dies unsere Rettung! Obligatorische Impfung – das ist es, aber damals gab es den Staat, es gab Gesundheitsversorgung, Strukturen, die regionale Gesundheitsinspektionen sind aus der Zeit, die sogenannte Demokratie hat alles ruiniert.“

„Der BCG-Impfstoff war in den 1930er Jahren erhältlich – auch in Bulgarien, aber so teuer, dass dies nur für die reichsten und hochausgebildeten Eltern leistbar war – also für ganz wenige.“

Leser weisen auch auf den wirtschaftlichen Aspekt hin: die bulgarische Pharmaindustrie als gewinnbringenden, wettbewerbsfähigen Business:

„Während der sozialistischen Ära befand sich die Produktion von Arzneimittel vollständig in Staatsbesitz, Impfstoffe gingen zu Lasten des Staatshaushalts und wurden so hergestellt, dass sie eine längstmögliche Dauerwirkung haben. In Westeuropa sind sowohl Impfstoffe als auch Medikamente bezahlt. Behandlung und Impfung sind ein Privatgeschäft nicht für Milliarden, sondern für Billionen. Daher sind Pharmaunternehmen nicht an ihrer langfristigen Wirkung interessiert.“

Stark ausgeprägt sind aber auch die konträren Meinungen, die ebenfalls auf die aktuell in Bulgarien sehr umstrittene sozialistische Periode Bezug nehmen: „Aufgrund der ideologischen Konfrontation wartete Bulgarien auf den sowjetischen Impfstoff und kam mit der Massenimpfung drei Jahre zu spät.“ „Mit der medikamentösen Behandlung (Streptomycin) verspätete man sich in Bulgarien, da die Machthabenden nicht bereit waren, sich mit der kapitalistischen Welt auszutauschen.“ Die Einführung obligatorischer Impfungen wurde von manchen auch alsstalinistische Maßnahme“und „Missachtung der Grundrechte der Bürger“definiert. Die Missachtung des Rechts auf freie, informierte Wahl im Staatssozialismus wird durch die Impfgegner-Bewegung unterstrichen, die allerdings in Bulgarien vergleichsweise gering verbreitet ist.

Zahlreich sind auch die ironischen Kommentare: „Der Kapitalismus hat die Menschen so verwöhnt, dass sie stark anfällig sind; der Sozialismus – im Gegenteil – hat unsere Abwehrkräfte gestärkt.“ „Sogar das Coronavirus flieht vor dem Kommunismus. Hey, er ist aus dem kommunistischen China bis nach Europa und Amerika geflohen! Aber auch dort versucht er, sich vom ehemaligen sozialistischen Lager fernzuhalten.“

Die unterschiedlichen Ansichten zeugen von einem pluralistischen Medien- und öffentlichen Umfeld in Bulgarien, aber auch von anhaltenden Rissen und einer starken politischen Polarisierung mehr als 30 Jahre nach der sogenannten Wende. Die flüchtigen Berichte in den Medien und die generalisierenden Kommentare zeigen den Bedarf nach präzisem historischen Wissen und weisen auf signifikante Forschungsdesiderata.

Pandemie und nationale Identität

Im öffentlichen Diskurs auch über diese lange in Vergessenheit geratene Wissenschaftlerin und ihren Beitrag zur internationalen Tuberkuloseforschung bleiben die Stärkung der nationalen Identität und des nationalen Stolzes führend. Der Name von Srebra Rodopska wird nicht in allen Berichten über den BCG-Impfstoff erwähnt, aber in allen Materialien wird die Rolle Bulgariens hervorgehoben. Dabei kann man zwei wiederkehrende Argumentationslinien nachverfolgen: Ersten wird der Akzent auf den Beitrag des Staates durch die Adaptierung und Herstellung des Impfstoffs und dessen Einführung in den obligatorischen Impfkalender in den 1950er Jahren gelegt, d.h. das staatssozialistische Erbe wird unterstrichen. Zweitens werden vor allem Fakten aus der postsozialistischen Zeit angegeben und betont: Heute sei BCG (weiterhin) Teil der obligatorischen prophylaktischen Immunisierung in Bulgarien, seit 1991 sei ein bulgarisches BCG-Produktionslabor unter der wenigen (vier?) weltweit, welches von der WHO als Lieferant des Impfstoffes für UNICEF und die Pan American Health Organization anerkannt sei.

Die Hypothese, dass die obligatorische BCG-Impfung Grund für die relativ geringere Covid-19 Morbidität und niedrigere Mortalität in Bulgarien sei, liegt nicht den aktuellen staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in Bulgarien zugrunde. (( Die Aussage des Leiters des Nationalen Operativen Hauptquartiers, General V. Mutafchiiski, ist moderat: „Weltweit werden bereits Studien durchgeführt, ob der Tuberkulose-Impfstoff, der in Bulgarien obligatorisch ist, wirklich gegen die Ausbreitung des Coronavirus wirksam sein kann. […] Es gibt solche Theorien, wir hoffen darauf, dass diese sich behaupten.“ – https://nova.bg/news/view/2020/04/01/283612/правят-проучвания-дали-ваксината-срещу-туберкулоза-е-преграда-за-коронавируса/.)) In diese Richtung gab es jedoch vereinzelte, spektakuläre Aussagen von höchster Stelle aus, die in den Medien zusätzlich akzentuiert werden (( „[Premierminister] Boyko Borisov: Christine Lagarde fühlt sich geschützt, da sie mit dem bulgarischen BCG geimpft ist”, https://dariknews.bg/novini/bylgariia/borisov-kristin-lagard-se-chuvstva-sigurna-zashtoto-ima-bylgarska-bczh-vaksina-video-2223768 – 29.04.2020.)), doch zugleich sind solche Aussagen auf die kritische Frage gestoßen, ob sie nicht nur dazu dienten, das nationale Selbstbewusstsein „aufpumpen“. (( Diana Yankulova, BNR Sendung “Nedelya 150”, 3.5.2020.)) Die wirtschaftliche Logik ist jedoch unbestritten: Der pragmatische Ansatz bestimmt die Suche nach finanziellen Möglichkeiten für den Ausbau neuer Produktionslinien für BCG-Impfstoffe in Bulgarien sowohl für den Inlandsbedarf als auch für den internationalen Markt, auf dem der bulgarische Impfstoff eine etablierte Position einnimmt.

Vom konkreten Fall zur Globalgeschichte

In Bulgarien ist also die Resonanz auf vorläufige Berichte über die immunstärkende Wirkung des BCG-Impfstoffs und seine mögliche Abwehrwirkung gegen Covid-19 groß; sie bringt Namen von Personen und Institutionen aus der Vergessenheit hervor und sie intensiviert die öffentliche Diskussion über soziale Schichtung, über den Zusammenhang von Medizin, Politik und Wirtschaft sowie über die Rolle des Staates in der jüngsten Vergangenheit und heute. Obwohl eine Reihe von Ländern klinische Studien zur Entwicklung modifizierter TB-Impfstoffe auf der Basis von Bacille Calmette-Guérin, gerade als Immunstimulans auch gegen Covid-19, gestartet haben (( Tzvetelina Stefanova, et al.: „Genetic Composition of Mycobacterium bovis BCG Substrain Sofia“, Journal of Clinical Microbiology. 2003, Vol, 41 (N 11), 5349; Gudrun Heise: “Mit einem Tuberkulose-Impfstoff gegen COVID-19?”, DW, Medizin, https://www.dw.com/de/mit-einem-tuberkulose-impfstoff-gegen-covid-19/a-53325264.)), zeigt ein Überblick von Online-Ausgaben in Englisch und Deutsch ein mangelndes Interesse bzw. sogar Skepsis gegenüber der „bulgarischen Spur“ und insgesamt gegenüber der ost-südosteuropäischen Erfahrung.

Die Pandemie erhöht den Wissensbedarf in allen Bereichen der Wissenschaft – nicht nur der Medizin, sondern auch den Geistes- und Sozialwissenschaften. Nach den ersten Reaktionen, d.h. nach der Schließung im wortwörtlichen und im übertragenen Sinne der Grenzen des Nationalstaats, wuchs rasch das Bedürfnis nach supranationaler Solidarität. Eine wesentliche Voraussetzung und zugleich ein wesentliches Element dieser Solidarität ist ein gemeinsames Gedächtnis, eine gemeinsame Weltgeschichte.

Das konkrete Beispiel der Diskussionen über den BCG-Impfstoff und über Impfpraktiken kann Ausgangspunkt für eine solche Hinwendung zur Geschichte in der aktuellen Krise sein. Eine führende bulgarische Journalistin, Irina Nedeva, deutete in ihrem Gespräch mit der Enkelin von Srebra Rodopska auf einen weiteren Deutungshorizont hin. In der Darstellung der Persönlichkeit des Mikrobiologen, lenkte die Journalistin die Aufmerksamkeit auf Themen wie Geschlecht, Vereinbarkeit von beruflicher Arbeit und Familie etc. Am Beispiel der Familie dieser Medizinerin wies die Journalistin auf die globale Verflochtenheit der Welt während des Kalten Krieges hin, ohne jedoch die Bedeutung des Eisernen Vorhangs zu leugnen. (( https://www.bnr.bg/post/101263217))

Die Geschichte des Kampfes gegen die Tuberkulose und des BCG-Impfstoffs ist nur eines aus einer Reihe von Beispielen. Gemeinsam und vernetzt über die Grenzen der Blockkonfrontation hinweg waren etwa die medizinischen und politisch-gesellschaftlichen Anstrengungen, die Kindersterblichkeit zu senken und akute Infektionskrankheiten mit schweren Dauerfolgen, wie z.B. Polio (( Dora Vargha: Polio Across the Iron Curtain: Hungary’s Cold War with an Epidemic. Cambridge: Cambridge University Press, 2018.)), zu bekämpfen. Gesundheitswesen nach dem Zweiten Weltkrieg und bis heute sind im Rahmen der Nationalstaaten organisiert, daher ist es wichtig, ihre großen Unterschiede zu beachten. Doch – wie auch Covid-19 schmerzhaft zeigt – lassen sich Krankheiten weder von nationalen noch von ideologischen Grenzen stoppen. So entwickelte sich die moderne Medizin in einem komplexen Wechselspiel und Dialog zwischen der westlichen liberalen Moderne und ihrer sozialistischen Alternative.

Während für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mehr Forschung zur internationalen Medizingeschichte vorliegt, ist die Zeit des Eisernen Vorhangs immer noch von „Mauern“ im Denken geprägt. Im Osten wird die Debatte weiterhin von polaren Positionen „für“ oder „gegen“ den Staatssozialismus geprägt, zwischen denen es schwierig ist, einen Dialog zu erreichen. Auch im Westen gibt es „Mauern“: In den letzten Jahren wird zwar die Notwendigkeit, den westeuropäischen Zentrismus in der Geschichtsschreibung zu überwinden, immer häufiger, und durchaus selbstkritisch hervorgehoben – gleichzeitig bleibt jedoch die Geschichte von Ost-, Mittel- und Südosteuropa weiterhin weitgehend von der Geschichte Europas und der Welt ausgeschlossen. (( Friederike Kind-Kovacs, Valeska Bopp-Filimonov: “Debating East Central Europe Again? German Academia and the Dilemma of Spatial Categorie”, Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 16 (2018) 3, 307–314; Bozena Choluj, Claudia Kraft (Hg.): Nach 1989 (= L’Homme 28, 2017/1).)) Nach 1989 „verwandelte sich Osteuropa von der Zweiten Welt in das andere Europa“. (( Teresa Kulawik, Zhanna Kravchenko (Eds.): Borderlands in European Gender Studies: Beyond the East-West Frontiers. London: Routledge, 2019.))

Leviathan

An dieser Stelle setzt das 2019 vom European Research Council (als Synergy Grant) bewilligte Forschungsprojekt „Bändigung des Europäischen Leviathans: Das Erbe der Nachkriegsmedizin und des Gemeinwohls“ (Leviathan) ein. (( Principal Investigators sind Volker Hess (Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charite Universitatsmedizin Berlin), Judit Sandor (Central European University, Budapest), Ulf Schmidt (University of Kent) und die Autorin des Beitrags. Weitere Partner: Veronika Stoyanova (University of Kent) und Jonathan Moreno (University of Pennsylvania).)) Die Covid-19 Pandemie hat das Interesse am philosophischen Werk von Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert erhöht. Thomas Hobbes entwirft ein besonderes Bild von den Funktionen der Staatsmacht in seiner Schrift Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens (1651) in einer Zeit schwerer (religiöser) Konflikte und Kriege. Das biblisch-mythologische Bild vom Seeungeheuer Leviathan wird von ihm symbolisch verwendet, um bildhaft die Notwendigkeit eines starken Staates zu beschreiben. Nur eine übergeordnete Instanz könne die Menschen aus ihrem Naturzustand, die Angst, Chaos und Krieg aller gegen alle bewirkt, herausführen und ihnen Überleben und ein besseres Leben sichern.

Es gibt heute viele konservative Kommentare, welche die Pandemie als Anlass nutzen, um Forderungen nach einen Leviathan zu stellen; sie begrüßen einen allmächtigen Staat, dessen Beschränkungen wir freiwillig als eine Art Abkommen akzeptieren, um unser Leben zu retten. Besonders virulent sind die Diskussionen heute, ob man aus Angst vor der Krankheit bereit sein soll errungene Grundfreiheiten aufzugeben.

Doch Metaphern – wie jene des Leviathans – sind generell mehrdeutig und offen für unterschiedliche Interpretationen. In unserem Projekt steht die Metapher für die Suche nach der Überwindung politischer Trennlinien und ideologischer Konfrontationen, nach dem Vereinigenden, nach dem Supranationalen. Denn auch so kann man Hobbes lesen.

Wir zielen nicht auf eine Geschichte der Medizin, sondern auf eine erneute Hinwendung zur Geschichte Europas über der Perspektive auf Medizin und das Gesundheitswesen. Die Beschränkung auf Europa in dem Projekt ist nur pragmatisch bedingt, denn wir verstehen unsere Forschung eigentlich als Schritt zu einer Globalgeschichte. Die konkreten Themenfelder sind breit angelegt (das Projekt ist sechsjährig): Grob verallgemeinernd könnte man als Leitlinie die Frage der Reproduktionspolitiken hervorheben. Dabei ist unser Verständnis von Reproduktionspolitik ein erweitertes – nicht nur im engeren Sinne als Politik zur Bevölkerungsreproduktion, sondern auch als Politiken und Praxen (Konzepte, Einstellungen, Institutionen, Akteur*innen) in Bezug auf Behinderung, Altern, Sterben. Das schließt die Forschung der pharmazeutischen Revolution, der klinischen Experimente und Tests von Impfstoffen, der Bioethik und der medizinischen Utopien uvm. еin.

Gezielt werden wir nach den vielschichtigen, transnationalen Verflechtungen suchen. Dazu wird (hoffen wir) die Verflechtung der spezifischen Wissenschaftsdisziplinen beitragen – wir verstehen das Projekt als Schnittmenge von Cold War Studies, Geschichte und Ethnologie der Medizin und der medizinischen Technologien, der Kindheits-, Behinderten-, Familien- und Altersforschung sowie der sozialwissenschaftlichen Erforschung des Rechts.

Zurück zum angeführten konkreten Beispiel der bulgarischen Ärztin und Mikrobiologin Srebra Rodopska: Wenn man (methodisch) die historischen Akteure nahe verfolgt, sich an ihren Fersen heftet, so sieht man die enge historische wie gegenwärtige Verwobenheit der Welt. Das Bewusstsein darüber zu stärken kann Vorbeugung und Therapie gegen Viren aller Art sein!


Beitragsbild: Svik via Wikimedia commons / CC BY-SA 3.0