Hymnen haben in Zeiten der Krise Konjunktur – in Bukarest und anderswo: Peter Mario Kreuter erklärt im Interview die Hintergründe.
Gesang statt Sirenenklänge: In Rumänien spielt die Polizei den während der Corona-Epidemie zu Hause ausharrenden Bürgern zur Aufmunterung die Nationalhymne aus Lautsprechern vor. Und auch andernorts in Europa erklingen Hymnen in der Krise auffällig oft: In Italien singen die Menschen schon seit Wochen auf ihren Balkonen mit „Fratelli d’Italia“ gegen Virus und Lagerkoller an. In Deutschland intonieren viele die „Ode an die Freude“, die auch Europa-Hymne ist. Dr. Peter Mario Kreuter beobachtet das mit besonderem Interesse. Der Südosteuropahistoriker am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung ist einer der bekanntesten deutschen Experten für die Kulturgeschichte der Nationalhymnen. Er erklärt, warum sich die rumänische Hymne eignet, um in schweren Zeiten Mut zu machen – und welche anderen Hymnen von Krisen und Krankheit berichten.
Herr Kreuter, was will die rumänische Regierung mit dem Abspielen der Nationalhymne erreichen?
Peter Mario Kreuter: Mit der Anordnung Nr. 54/2020 vom 28.03.2020 befahl der rumänische Innenminister, dass für die Zeit der Corona-Maßnahmen an Samstagen und Sonntagen um 17 und um 21 Uhr alle patrouillierenden Polizei- und Gendarmerieeinsatzwagen des Landes anzuhalten haben und über die Lautsprecher die ersten drei Strophen der Nationalhymne abzuspielen seien. Die Idee ist, mit dieser Maßnahme den Zusammenhalt der Menschen im Land zu festigen und allen zu danken, die im Kampf gegen das Coronavirus ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren.
Ist die Hymne dafür überhaupt geeignet?
Peter Mario Kreuter: Nun, sie ist zunächst einmal im Zuge unruhiger Momente der Geschichte entstanden, nämlich während der Revolution von 1848. Außerdem ist sie als Hymne seit einem weiteren massiven revolutionären Umbruch in Gebrauch, denn das Lied avancierte in den Dezembertagen 1989 zu einem der Identifikationssymbole gegen das kommunistische Regime des Nicolae Ceaușescu.
Wie ist sie entstanden?
Peter Mario Kreuter: Text wie Melodie stammen vom Sommer 1848. Andrei Mureșanu (1816–1863) veröffentlichte ein 11-strophiges Gedicht unter dem Titel „Ein Aufruf“. Ein Bekannter von ihm, der Kronstädter Lehrer und Sänger Gheorghe Ucenescu (1830–1896) unterlegte es mit einer auf der Basis eines Volksliedes geschaffenen Melodie, die wohl von Anton Pann (1794-1854) stammt. Das dergestalt vertonte Gedicht zündete sofort, und unter den Revolutionären in Siebenbürgen des Jahres 1848 machte dieses Lied die Runde. Es blieb auch in den folgenden Jahrzehnten unter Rumänen im In- wie Ausland ein sehr populäres Lied. Das bald nach seinen Anfangsworten „Deșteaptă-te, române!“ (Erwache, Rumäne!) genannte Lied wurde bei den Kämpfen mit den Osmanen 1877/78 ebenso gesungen wie im Ersten Weltkrieg. Nach dem Seitenwechsel Rumäniens im Zweiten Weltkrieg vom 23. August 1944 war dieser Marsch sogar neben der Königshymne das beliebteste patriotische Lied. Allerdings passte der Text den neuen kommunistischen Machthabern so gar nicht – weder wollte man den „Priester mit dem Kreuz voran, weil die Sache christlich ist“ haben noch die klar nationalen Partien des Textes dulden, die vom Kaiser Trajan und von mittelalterlichen Fürsten handelten. „Deșteaptă-te, române!“ verschwand nach 1948 in der Versenkung, und das kommunistische Rumänien bekam eine (erste) systemkompatible Hymne verpasst – es sollten bis zum Sturz Ceaușescus insgesamt drei Hymnen den sozialistischen Staat lobpreisen.
Wie wurde das Lied dann wieder zur offiziellen Hymne?
Peter Mario Kreuter: Es war in all den Jahren keineswegs vergessen. Bei der Hungerrevolte in Kronstadt/Brașov am 15. November 1987 erklang denn auch „Deșteaptă-te, române!“, wenn auch nicht unbedingt in absolut textsicheren Variationen. Seit den Dezembertagen 1989 ist das Lied wieder höchst populär und seit 1990 auch die amtliche Nationalhymne Rumäniens. Übrigens: Zwischen 1990 und 1994 war „Deșteaptă-te, române!“ außerdem die Hymne der Republik Moldau.
Und an diesen kämpferischen Geist soll die Hymne nun auch in der Corona-Krise erinnern?
Peter Mario Kreuter: So könnte man die Regierungsanordnung interpretieren. Aus einem Lied mehrerer Revolutionen, aus einem Lied, dessen Melodie ein vorwärtstreibender Marsch ist, wird so ein klingendes Symbol für das Anhalten des Landes, für den bewusst angeordneten staatlichen Stillstand. Zahlreiche Videos auf Youtube zeugen davon, dass diese Aktion bei den Menschen im Land durchaus ankommt.
Welchen Zweck haben Hymnen eigentlich?
Peter Mario Kreuter: An sich ist eine Nationalhymne ein feierlicher Lobgesang, also ein ausgewähltes Musikstück, mit dem sich ein Staat zu besonderen Anlässen präsentiert und das idealerweise auch als eine Art Erkennungsmelodie im Volk bekannt und beliebt ist. Sie ist Teil des militärischen Zeremoniells und des diplomatischen Protokolls. Ein Staat muss eine Hymne haben, damit man ihm protokollarische Ehren erweisen kann.
Täuscht der momentane europaweite Eindruck, oder sind Nationalhymnen allgemein in Krisenzeiten besonders hoch im Kurs?
Peter Mario Kreuter: Das dürfte kulturabhängig sein – nicht in allen Ländern ist es üblich, mit seinen Gefühlen so direkt an die Öffentlichkeit zu gehen oder diese gemeinsam zu teilen – und auch abhängig vom jeweiligen Staatslied. Ein zünftiger Marsch ist in Zeiten der Krise eher geeignet, die Menschen zu begeistern, als es dies eine getragene Landeshymne kann. Während in Italien gesungen wird, hängen die Dänen den Dannebrog raus. Denn die Nationalflagge genießt in Dänemark höchsten Respekt und wird bei staatlichen Feiern wie bei Familienfesten gerne gehisst. Die ruhige dänische Landeshymne eignet sich nicht so sehr zum Schlachtgesang, und die martialische Königshymne bleibt höchsten staatlichen Anlässen vorbehalten. Doch in beiden Fällen, dem italienischen wie dem dänischen, geht es um Identitätsstiftung, um das Sammeln der verschiedensten Menschen um ein Symbol, das alle anerkennen.
Gibt es Beispiele dafür aus der Vergangenheit für Hymnen, die speziell mit Krisen zusammenhängen?
Peter Mario Kreuter: Da würde ich ganz klar die Volkshymnen aus revolutionären Zeiten nennen – Frankreichs „Marseillaise“ oder Belgiens „Brabançonne“. Oder der „Inno di Mameli“ aus Italien. Revolutionen und Umstürze sind eben guter Dünger für die Schaffung eines knackigen patriotischen Liedes. Nehmen wir nur einmal die „Marseillaise“ – mitten in revolutionären Wirren in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1792 komponiert und getextet durch Hauptmann Claude Joseph Rouget de Lisle (1760–1836) als Kriegslied für die französische Rheinarmee. Den Namen „Marseillaise“ bekam der Marsch erst, als er von Soldaten aus Marseille am 30. Juli 1792 beim Einzug in Paris gesungen wurde. Oberbefehlshaber der Rheinarmee war übrigens Nikolaus Graf Luckner (1722–1794), und weil dieser in Cham in der Oberpfalz geboren wurde, ertönt die „Marseillaise“ noch heute täglich um 12:05 Uhr vom Glockenspiel auf dem Chamer Marktplatz. Oder ein anderes Beispiel: Dass die Niederländer heute die 1. und die 6. Strophe des „Wilhelmus“ – er stammt aus dem 17. Jahrhundert – singen, geht auf die Besatzung im Zweiten Weltkrieg zurück. In jener 6. Strophe wird vom Vertreiben der Tyrannei gesungen, was die Nazis gar nicht gerne hörten, und auch nach dem Ende des Krieges behielt man die Tradition bei, diese beiden Strophen zu singen. Auch die deutsche Hymne hätte beinahe von einer Krise erzählt. Die „Trotzstrophe“ von 1921 war als bitterer Kommentar gedacht wegen der harten Bedingungen von Versailles:
Deutschland, Deutschland über alles, Und im Unglück nun erst recht. / Nur im Unglück kann die Liebe zeigen, ob sie stark und echt. / Und so soll es weiterklingen von Geschlechte zu Geschlecht: / Deutschland, Deutschland über alles, Und im Unglück nun erst recht.
Diese Strophe wurde aber nie Teil der Hymne, was wohl vom Verfasser Albert Matthai (1853–1924) auch gar nicht beabsichtigt war. Zwar hat die Strophe in Kreisen der Deutschnationalen Volkspartei Anklang gefunden und fand sich im Liederrepertoire von Frontkämpferbünden, aber mit der Machtübernahme der Nazis wurden die Strophen 2 und 3 des „Liedes der Deutschen“ gestrichen. Da hatte diese „Trotzstrophe“ auch keine Existenzberechtigung mehr.
Mit den Verbrechen der Nazizeit dürfte es auch zusammenhängen, dass heute viele Deutsche statt der Nationalhymne lieber die Europahymne singen. Ist die denn eine gute Antwort auf eine Krise?
Peter Mario Kreuter: Die „Ode an die Freude“ ist ja an sich ein optimistisch stimmendes Lied. Leider wird sie amtlich nur instrumental aufgeführt, und den deutschen Text kennen selbst in Deutschland oder Österreich längst nicht alle. Vielleicht wäre es an der Zeit, den schon länger kursierenden lateinischen Text „Est Europa nunc unita“ ein wenig mehr zu propagieren.
Gibt es eigentlich „Krankheit“ als Thema in Hymnen?
Peter Mario Kreuter: Eigentlich nicht. Es gibt eine ganze Reihe von eher unschönen Dingen, die in Nationalhymnen besungen werden – Krieg mit allem, was Krieg mit sich bringt; Sklaverei; Mord und Totschlag (natürlich stets ausgeübt durch einen bösen Unterdrücker); das Sterben an sich, meist als heldenhafter Tod. Blut fließt auch gerne in Strömen, manchmal treiben auch Leichen einen Fluss hinunter. Gelegentlich kommt der Hunger vor (Finnland, 5. Str.: „Wenn Kriegsnot schrie von Tal zu Tal / Wenn Kälte kam mit Hungersqual“; Kolumbien, 4. Str.: „An den Ufern des karibischen Meeres / kämpft ein hungerndes Volk“). Einen Anklang an Alkoholmissbrauch gibt es einmal (Italien, 5 Str.: „Schon ward Österreichs Adler gerupft das Gefieder / Er soff mit Kosaken Blut von Italien und Polen“). Aber Krankheit? In der 80. Strophe der griechischen Hymne kommt einmal die Pest vor …
Gibt es eine „Mutmacherzeile“, die Sie uns noch ans Herz legen möchten?
Peter Mario Kreuter: „Die Rebe hat nun wieder / den süßen Lebetrunk beschert, / der uns’re Pulse hebet / der Herzen uns und Augen klärt; / der ertränkt, / was da kränkt, / der Hoffnung in die Brust uns senkt.“ So lautet die 1. Strophe der slowenischen Nationalhymne.
Beitragsbild: Familie beim Musizieren (Ausschnitt/Gravur W.H.Pyne nach Philip Vandyke). Credit: Wellcome Collection / CC BY 4.0
Kommentare von Franz Kurz