In Bulgarien gibt es viel Lob, aber auch Kritik an der Regierung ­– und eine interessante Entwicklung für Sprachforscher.

Mit einer sehr niedrigen Anzahl von Covid-19-Todesfällen steht Bulgarien zumindest derzeit im europäischen als auch im regionalen Vergleich gut da. Bei der Frage, wessen Verdienst das ist, herrscht in der Gesellschaft seltene Einigkeit: In einer am 6. und 7. April durchgeführten Umfrage geben 77 % der Befragten an, dass die Regierung richtig handle und die Corona-Krise mehr oder weniger im Griff habe; besonders wichtig ist den Bürgern demnach, dass die Regierung frühzeitig reagiert habe. Tatsächlich war der Ausnahmezustand am 13. März aufgrund von nur 31 nachgewiesenen Covid-19-Fällen verhängt worden.

Auch die Kommunikation der Regierung scheint gut zu funktionieren. Die Veranstaltungen des Krisenstabs treffen visuell und rituell den Nerv des sonst sehr gemischt reagierenden Publikums: Leiter des Stabs ist ein Militärarzt und General, der – im Kontrast zu seinem leutseligen Auftreten und seiner milden Ironie – immer eine Uniform trägt. Von Anfang an erklärten die Mitglieder des Stabs der Bevölkerung unverblümt die Wahrheit: Die Härte der Maßnahmen hänge nicht so sehr mit der direkten Gefahr zusammen, die das Virus für das Leben der Bürger darstellt, sondern mit der geringen Belastbarkeit des bulgarischen Gesundheitswesens.

Es ist dabei interessant zu beobachten, wie sich die Schauplätze im Kampf gegen den Virus ändern. Anfangs wurden Anreiseorte wie Flughäfen und Grenzübergänge als Topoi der schleichenden Bedrohung wahrgenommen. In den ersten zwei Wochen des Ausnahmezustands sind circa 120 000 Bulgaren aus Ausland zurückgekehrt. Was unter anderen Umständen eine erfreuende Nachricht für das mit einer demographischen Krise ringende Land gewesen wäre, ließ in diesem Fall keine Freude aufkommen. Die meisten Rückkehrenden kamen aus Ländern, in denen die Epidemie bereits fortgeschrittenen war, und stellten dadurch eine Gefahr für die Daheimgebliebenen dar. Nachdem die Grenzen dicht gemacht worden waren, haben sich die Roma-Viertel der Großstädte (vor allem Sofia) zu Brennpunkten des Geschehens entwickelt.

Kontrollen für Roma und beklemmende Bilder

Seit 13. April ist bekannt, dass es auch in den dichtbesiedelten Gettos Erkrankungen gibt. Vor gut zwei Wochen richtete die Polizei dann Kontrollpunkte ein, die den Verkehr in diese Viertel und aus diesen hinaus begrenzen. Die Berichterstattung darüber findet nun aus sicherer Entfernung statt. Die Fernsehnachrichten zeigen oft Luftaufnahmen der Gettos, was die Angst der Zuschauer nur noch erhöht.

Trotz der hohen Zustimmungswerte für die Regierung sind weder der politische Wettbewerb noch die Zivilgesellschaft eingeschlafen. Der in den letzten Jahren andauernde Konflikt zwischen der Regierung (vor allem Ministerpräsident Bojko Borissow) und Präsident Rumen Radew geht unvermindert fort. Im März weigerte sich Präsident Radew, den Gesetzentwurf zum Ausnahmezustand zu unterschreiben; er schickte ihn dem Parlament mitsamt Anmerkungen zurück. Insbesondere war der Präsident mit der vorgesehenen Bestrafung für Verbreitung unwahrer Informationen über Viruskrankheiten nicht einverstanden. Die Justizkommission musste den Gesetzestext noch einmal überarbeiten, bevor das Parlament ihn am 23. März verabschieden konnte. Dieses Vorgehen brachte dem Präsidenten selbst von Kritikern Lob ein: Zum Glück habe man „die ungarische Variante“ (Haftstrafe) vermieden, bilanzierte beispielsweise der Politikwissenschaftler Daniel Smilow.

Kehrtwende bei Menschenrechten

Fast gleichzeitig, am 20. März, erklärte der konservative Justizminister Danail Kirilow, dass Bulgarien eine vorübergehende Ausnahmeregelung (sog. „Derogation“) für die Europäische Menschenrechtskonvention einsetzen wolle. Demnach würden Klagen der bulgarischen Staatsbürger an den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte während des Ausnahmezustands nicht zugelassen. Dieses Vorhaben stieß aber offenbar auf harsche Kritik, von Experten genauso wie von Parteifreunden und Regierungsmitgliedern. Anfang April verzichtete Bulgarien deshalb offiziell auf die Derogation und gab zudem bekannt, dass es zusammen mit 19 weiteren EU-Ländern eine Erklärung zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Zeiten von Covid-19 unterschrieben habe.

Soziologen und Politikwissenschaftler sind überrascht, dass trotz der hohen Akzeptanz für Sondermaßnahmen und der Bereitschaft der Gesellschaft, Rechte zu „opfern“, ein gewisser demokratischer Reflex erhalten bleibt. Der oben erwähnten Umfrage zufolge stimmen nur 22 % der Bürger der Aussage zu, die Demokratie sei nicht in der Lage eine Krise wie diese effizient zu bekämpfen. Die große Mehrheit lehnt diese Sichtweise dagegen ab.

Proteste und Populismus

Trotz strenger Verbote und Aufrufen zu Zurückhaltung sind weder Straßenproteste noch Populismus verschwunden. So protestierten Ärzte wegen schlechter Ausstattung, Bewohner der Roma-Viertel in Sofia wegen der Sperre und Einwohner der Küstenstadt Warna wegen der Schließung der Stadtparks. Die Frage nach Beschränkungen zum Osterfest wiederum ließ populistische Stimmen ertönen. Eine Interview-Äußerung des Generalstaatsanwalts Iwan Geschew, der in Öffentlichkeit eher als Politiker denn als Jurist auftritt, war in diesem Zusammenhang emblematisch: „Eine Kirche jetzt zu sperren, ist dasselbe, wie ein Krankenhaus zu schließen.“ ((http://epicenter.bg/article/Ivan-Geshev–Vyarvasht-sam–Gospod-ni-dava-znak–che-ot-tazi-kriza-shte-izlezem-po-silni-i-po-dobri/213643/11/0)) Solche Aussagen wurden von vielen in dieser längst säkularisierten Gesellschaft als seltsame Frömmelei empfunden.

Interessante Zeiten für Sprachforscher

Für mich als Sprachforscher sind die Zeiten ohnehin interessant. Das von lateinischem Etymon natio stammende Wort нация [nacija] ist im Bulgarischen, wie auch in anderen Sprachen Osteuropas, relativ stark markiert und selten verwendet. In der Gemeinsprache kommt es meistens in Verbindung zu den west- und mitteleuropäischen Staaten und Kulturen vor. Im Lauf der Corona-Krise wird das Wort im einheimischen Kontext aber zunehmend anstelle von народ [narod] „Menschen; Volk“ verwendet. Eine Google-Suche unter Titeln von Medienberichten belegt das eindeutig. ((Ich habe von den Treffern der Suchanfrage [allintitle:  нация OR нацията] manuell diejenigen ausgewählt, bei denen die bulgarische Nation gemeint ist.)) Im letzten Monat (16.03. bis 16.04.2020) wurde das Wort im Kontext von „Bulgarien“ häufiger verwendet als in den vorangegangenen elf Monaten (16.04.2019 bis 15.03.2020) zusammen. Nicht nur Politiker, sondern auch Sportler (etwa die Hochsprung-Legende Stefka Kostadinowa oder der Tennisspieler Grigor Dimitrow), Sänger (die Estrada-Ikone Lili Iwanowa), sogar die Popfolkdiva Emilija haben das Wort in den Mund genommen. Ein Beispiel von vielen ist das erwähnte Interview mit Generalstaatsanwalt Geschew: „Die Geschichte zeigt, dass wir Kriege verloren haben, Leben verloren haben, wir haben Krankheiten und Hunger durchgestanden, nur Frauen sind in den Häusern geblieben, aber die bulgarische Nation hat überlebt.“ Interessant wäre zu wissen, welche gedanklichen Assoziationen dieses vom höchsten Prokuristen des Landes ausgesprochene Wort bei Rechtswissenschaftlern und -historikern weckt.

Eines ist klar: die Corona-Krise bietet viele Denkanstöße für Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaftler, die sich für Ost- und Südosteuropa interessieren. Das staatssozialistische Erbe etwa ist in der aktuellen medizinischen Debatte oft Thema; es wird neu bewertet, neu gedeutet und für Selbstlegitimierung verwendet. Ein Organisationsnetzwerk, das aus dem Sozialismus stammt und dessen Aktien in der Corona-Krise gestiegen sind, umfasst die sogenannten RZIs (regionalni zdravni inspekcii, „Regionale Gesundheitsaufsichtsbehörden“). Ein Grund für die aktuelle Lage in Ländern wie Spanien sei, dass dort das Gesundheitswesen zerstückelt und unkontrollierbar sei; es fehle an einem Äquivalent zum RZI, das für die Funktionalität der gesundheitspolitischen Maßnahmen vor Ort direkt verantwortlich sei, heißt es.

Ein noch besseres Beispiel: Die hohe Quote an BCG-Impfungen gegen Tuberkulose in den ehemaligen sozialistischen Ländern und nicht etwa die geringe Zahl von durchgeführten Covid-19 Tests soll die niedrigeren Ansteckungsraten in diesen Ländern erklären. Angeblich ist Bulgarien das erste Land in Europa, das eine obligatorische BCG-Impfung eingeführt hat. Ab 1951 wurden alle Neugeborenen und alle unter 18-Jährigen (deren Mantoux-Test negativ ausgefallen ist) geimpft. Dieses Verfahren wird bis heute beibehalten, somit sind praktisch alle Bürger geimpft. Der Impfstoff, zum dessen Großhersteller und -lieferanten für UNICEF und PAHO sich Bulgarien in den 1990er entwickelt hat, stärke die Abwehrkräfte gegen Covid-19, heißt es. Dabei ist ein Zusammenhang längst noch nicht erwiesen. Trotzdem meinen viele nun, die „Anti-Vaxxer Extremisten“ sollten in diesen Tagen gefälligst still sein.